Führen mit dem Führungskompass – geht das auch in Zeiten von Corona? Jörg Krissler, Autor von «Achtsam führen: eine Orientierungshilfe im Unternehmensalltag» sagt: «Jetzt erst recht».

Das Buch «Achtsam führen», das den Führungskompass mit ins Zentrum der Unternehmenslogik stellt, wurde, metaphorisch ausgedrückt, in einer Schönwetterlage geschrieben. Es geht davon aus, dass ein ausgewogenes System langfristig Erfolg haben wird. Gleichzeitig anerkennt es, dass sich dieses nur kurzfristig in Balance halten lässt, also permanent austariert werden muss.

Nun haben sich die meteorologischen Bedingungen geändert. Ein guter Moment, um die damaligen Überlegungen unter diesem neuen Blickwinkel zu betrachten. Taugt das Modell auch unter herausfordernden Umständen?

Beginnen wir mit der Dynamik, die in das System hineinwirkt und auch jener, die nach aussen genutzt werden kann (im Modell ist das mit den Pfeilen nach innen und nach aussen dargestellt).

Der Führungskompass integriert wesentliche Führungsaspekte.

Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen

Kernbotschaft: Nutze die Einflüsse

Das Konzept des Führungskompasses unterscheidet nicht, welche Einflussfaktoren auf Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Wissenschaft wirken. Vor wenigen Monaten wurden vor allem Megatrends wie die Digitalisierung beachtet. Heute liegt der Fokus woanders. So sind, als Folge der Covid19-Pandemie, ganz elementare Themen in den Vordergrund gerückt. Es geht nun in erster Linie um Sicherheit. Als eine der Urängste gehört sie besonders beachtet. Erst wenn Menschen ein Grundvertrauen spüren, sind sie handlungs- und leistungsfähig. Und beides wird heute dringend benötigt.

Die Aufmerksamkeitsbühne erweitert sich um den Faktor Gesundheit und das ist gut so. Akzeptieren Sie diese Herausforderung. Wer damit hadert, verschenkt seine Energie. Jetzt ist Aikido gefragt, nicht Karate.

Schlüsselfrage: Anerkenne ich die aktuellen Bedingungen und nutze ich den gegebenen Rahmen optimal?

Kooperationen (Kontakte gestalten nach innen und nach aussen)

Kernbotschaft: Engagiere Dich für Kooperationen

Schön zu sehen, wie sich eine Welle der Solidarität in der Gesellschaft ausbreitet. Junge helfen Älteren, Gesunde den Kranken. Die spontanen oder organisierten Balkon-Events schaffen ein starkes Gemeinschaftsgefühl und generieren Verbundenheit bei Menschen, die sich bisher unbekannt geblieben sind.

Auch in der Wirtschaft ist die Chance für intuitive Zusammenschlüsse gegeben. So liessen sich neuartige Kooperationen bilden, die bisher undenkbar waren. Das ‘out-of-the-box-Denken’ wird in derartigen Momenten gerne propagiert. Dieses ist aber anspruchsvoll, weil dabei der Blick immer von innen (also vom Bekannten) in das Aussen (in das Fremde) geht. Die Energie des Bewahrens bleibt dabei stark.

Lassen Sie uns als Alternative dazu die eigene Box um eine Dimension vergrössern. Die innere Einheit bildet das ab «was wir tun». Das übergeordnete Konzept beschäftigt sich mit der Frage «warum wir es tun». Welche Organisationen oder Organisationsformen, vielleicht auch anderer Branchen und Regionen, orientieren sich an einem ähnlichen Purpose (Unternehmenszweck)? Mit wem können wir auf moralisch ähnlicher Ebene kooperieren, um dank der neu entstehenden Denkmuster überraschende und wirkungsvolle Lösungsansätze zu entwickeln?

Schlüsselfrage: Bin ich offen für neue Zusammenschlüsse und mit wem könnte ich «meine Box» sinnvoll vergrössern?

ICH (Selbstbewusstheit)

Kernbotschaft: Sorge für Dich selbst

Wer Sicherheit spenden will, muss für sich selbst hinreichend Sicherheit gefunden haben oder sich im Umgang mit der Unsicherheit genügend souverän fühlen. Dabei ist das Anerkennen der eigenen Begrenzung genauso wichtig wie das bewusste Nutzen der Stärken.

Im Aufmerksamkeitsfokus stehen Kopf, Herz und Hand. Den Kopf nähren wir mit den ausschliesslich relevanten Informationen, die wir aus dem Hintergrundrauschen des Datenmülls herausfiltern. Die Hand steht für das Körperliche, das wir mit genügend Ruhe, Bewegung und bewusster Ernährung kräftigen. Mit dem Herz sind alle wichtigen Beziehungen gemeint, die sich auch nach dem Prinzip der sozialen Distanz pflegen lassen. Es bieten sich kreative neue Kontaktformate an. Wie wär’s mit einem kooperativen Entwicklungsprojekt mithilfe von Zoho? Einem Spielabend über Zoom? Oder ganz einfach mit dem Schreiben eines Briefes auf Papier?

Schlüsselfrage: Stärke ich mich in meinem Handeln und halte ich so einen energetisch kraftvollen Zustand aufrecht?

Werte

Kernbotschaft: Orientiere dich an Werten

Je mehr das vormals selbstbestimmte Handeln durch unberechenbare äussere Faktoren beeinflusst wird, desto wichtiger wird die innere Stabilität eines Systems. Die oberste Einheit, die Führungskräften den eigenen Verantwortungsbereich zusammenhält, sind die Werte.

Speziell in stürmischen Zeiten vermitteln sie die oft einzige Konstante, die der Belegschaft eine stabile Vertrautheit und damit die so notwendige Sicherheit bietet. Die Werte sollten nun erneut mit den Mitarbeitenden thematisiert und in Bezug zu den aktuellen Herausforderungen gesetzt werden. Das hat eine enorme Ausstrahlung und vermittelt allen Beteiligten die Gewissheit, dass sie sich darauf verlassen können.

Schlüsselfrage: Hinterfrage ich mein Handeln konsequent und vermittle ich aktiv Sicherheit mithilfe der kommunizierten Werte?

ICH-DU (Individualität ermöglichen / Beziehungen eingehen)

Kernbotschaft: Sorge für gute Beziehungen

Gerade unter Beachtung des ‚social distancing‘ zeigt es sich momentan herausfordernd, persönliche Beziehung zu jeder und jedem Mitarbeitenden zu pflegen. Wieviel und welche Nähe lässt das Führen auf Distanz zu?

Hier lässt sich die räumliche von der zeitlichen Nähe unterscheiden. Die erste ist aus Vernunftgründen eingeschränkt und lässt sich mithilfe von digitalen Mitteln nur teilweise wiederherstellen. Dennoch soll jede sinnvolle Gelegenheit für direkte Kontakte genutzt werden, wobei dann der Austausch von Fachinformationen am unwesentlichsten ist.

Bleibt als zweites die zeitliche Nähe. Diese ermöglicht Präsenz durch ritualisierte Informationen, unabhängig von den zur Verfügung stehenden Kanälen; regelmässig, einfach, offen und ungeschminkt. Es gibt auch etwas zu sagen, wenn es nichts zu sagen gibt. Ausserdem bietet sich so die enorm wertvolle Möglichkeit hinzuhören, was die Mitarbeitenden beschäftigt. Das ist wahre Qualitätszeit.

Schlüsselfrage: Weiss ich, wie es jeder und jedem Mitarbeitenden geht und was sie oder er von mir braucht?

ICH-WIR (Kompetenzen koordinieren / Zusammenarbeit gestalten)

Kernbotschaft: Sorge für konstruktive Teambedingungen

Es kann besonders herausfordernd sein, trotz wirtschaftlichem Druck solidarisch an den bestehenden Mitarbeitenden festzuhalten. Gleichwohl bildet die Stabilität der Teams, neben den früher thematisierten Werten, die stärkste verbindende Kraft, um zukunftsorientiert Leistung von guter Qualität einfordern zu können. Im gegenteiligen Fall würden sich die Verunsicherung der verbleibenden Mitarbeitenden wie auch die wirtschaftlichen Spätfolgen für Alle kontraproduktiv auswirken.

Teams sind in der Lage, ihre eigene Zusammenarbeit optimal zu gestalten. Sie erkennen oft schnell und deutlich, welche Prozesse innerhalb ihres Teams und auch zwischen den Teams besser funktionieren und welche die Spitzenleistung eher behindern. Gerade jetzt kann der Moment sein, diese Aufgabe zur Teamsache zu erklären, und die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen, die es braucht, um sich optimal neu aufzustellen.

Schlüsselfrage: Vertraue ich meinem Team und gebe ich ihm auch jetzt die Chance, sich weiterzuentwickeln?

ICH-ES (Sinnhaftigkeit aufzeigen / strategisch, wirtschaftlich handeln)

Kernbotschaft: Sorge für die Sinnhaftigkeit von Zielen

Die meisten Menschen leisten gerne und möchten sich zu Gunsten eines anerkannten, übergeordneten Zwecks engagieren. Sie haben Vertrauen verdient und benötigen dieses, genauso wie auch klare Leitplanken, für ihre Selbstwirksamkeit.

Unter Druck geht der Blick häufig nach unten, den nächsten Schritt ins Auge gefasst. Das Leben findet so im Mikrokosmos statt. Präzise Ansagen auf Sichtdistanz sind jetzt besonders wertvoll. Das vermittelt Klarheit, wo Klarheit möglich ist und lässt Selbstverantwortung zu, wo diese sinnvoller erscheint. Blick hoch heisst dennoch die Devise. Deshalb soll ausgerechnet jetzt die Aufmerksamkeit auf den Purpose gelegt werden und die Orientierung an den grossen Zielen und den formulierten Werten ermöglichen.

Schlüsselfrage: Lassen meine Anweisungen sowohl den Blick nach unten als auch den Blick nach oben zu?

Die Schlüsselfragen auf einen Blick

  • Anerkenne ich die aktuellen Bedingungen und nutze ich den gegebenen Rahmen optimal?
  • Bin ich offen für neue Zusammenschlüsse und mit wem könnte ich «meine Box» sinnvoll vergrössern?
  • Stärke ich mich in meinem Handeln und halte ich so einen energetisch kraftvollen Zustand aufrecht?
  • Hinterfrage ich mein Handeln konsequent und vermittle ich aktiv Sicherheit mithilfe der kommunizierten Werte?
  • Weiss ich, wie es jeder und jedem Mitarbeitenden geht und was sie oder er von mir braucht?
  • Vertraue ich meinem Team und gebe ich ihm auch jetzt die Chance, sich weiterzuentwickeln?
  • Lassen meine Anweisungen sowohl den Blick nach unten als auch den Blick nach oben zu?

Fazit

Anfangs haben wir die Frage gestellt, ob der Führungskompass auch unter erschwerten Bedingungen taugt. Ist das Prinzip der Balance zwischen den vier prioritären Handlungsfeldern von Führungskräften in Frage gestellt? Der vorliegende Text verweist eher auf das Gegenteil.

Die Aufmerksamkeit auf die persönliche Befindlichkeit steht für Menschen mit Führungsverantwortung jetzt vorrangig im Zentrum. Die einzelnen Mitarbeitenden benötigen weiterhin individuelle Beachtung und das Team verdient Gestaltungsfreiraum für die eigene Weiterentwicklung. Neben dem Fokus auf den nächsten Herausforderungen bilden die Unternehmensziele, authentisch gelebte Werte und ein gemeinsames Verständnis des Unternehmenszwecks den notwendigen Überbau.

Führungskompass: jetzt erst recht.

Leseprobe «Achtsam führen: eine Orientierungshilfe im Unternehmensalltag»

www.joergkrissler.ch